Diese Geschichte stammt von Jules Welling, aus der Schachwoche Nr.50 1986, frei nacherzählt von mir:
Ein Läufer gegen vier Springer – ein russisches Weihnachtsballett
Bei einem Turnier in Holland wurde mir folgende Stellung vor die Nase gehalten, ich weiß leider nicht mehr, von welchem sowjetischen Großmeister. Die damit verbundene Geschichte werde ich jedoch nie vergessen. Es kümmert mich nicht, ob sie sich genau so abgespielt hat, wie sie nachfolgend beschrieben wird:
Es handelt sich um die folgende Position:
Weiß: Kd6,Ld1,Sg4,Bd7 und Bg3
Schwarz: Kh7,Lb4,Sa6 und Sg5,Bc3,c5,e3,h6
Es soll sich um die Schlussstellung einer Partie aus dem Turnier von St. Petersburg 1909 oder 1914 handeln.
Lasst uns annehmen, dass Ossip Bernstein die weißen Steine führte und in dieser Stellung aufgab.
Damit begann die Geschichte vom georgischen Bauern. Dieser wollte nämlich nicht glauben, dass Weiß verloren sein sollte. Das Rätsel wurde sein ständiger Begleiter auf dem Taschenschach in seinem Traktor, und immer wenn es möglich war, beschäftigte er sich damit.
Die Jahre zogen ins Land. Er ergraute und wurde alt, hatte aber immer noch nicht den Glauben verloren, dass die weiße Position zu retten sei. Irgendwann konnte er ein Remis nachweisen. Dann, eines Tages im Alter von 70 Jahren, aus Gründen der Dramatik wahrscheinlich mitten in der Ernte auf dem Feld, hatte er die Erleuchtung.
Zusammen mit dem Lehrer schrieb er einen Brief an die Schachzeitschrift „64“, deren damaliger Chefredakteur Exweltmeister Tigran Petrosjan war.
Doch dieser war zu sehr mit seinen Turnieren beschäftigt, als daß er dem Anliegen eines georgischen Bauern Zeit widmen konnte. Der Brief wurde nicht einmal geöffnet. Nach dem Tod des Eisernen Tigers am 13. August 1984 übernahm Anatoli Karpow seine Nachfolge.
Die liegengebliebene Post wurde gesichtet. Michael Tal las den Brief des Bauern und begann die Stellung zu analysieren. Ein wundervolles Läuferballett im Tanz mit vier Springern entfaltete sich auf Tals Schachbrett:
1.Sf6+ Kg7
Der einzige Zug. Wenn sich der schwarze König auf die 8.Reihe begibt, ist er schnell verloren:
1.-, Kh8 2.d8=D, Kg7 3. Sh5+ , Kg6 4. Df6+, Kh7 5.Dg7# oder 3.-, Kh7 4.De7 mit schnellen Matt.
Falsch ist auch 1.-, Kg6 wegen 2.Lh5+, Kf6: 3.d8=D
2.Sh5+ Kg6
Wieder gibt es keine Wahl. Nach 2. ... Kh7 spielt Weiß 3. Lc2+, was den schwarzen König auf die 8.Reihe zwingt, wonach Weiß seinen Bauern mit Schach in die Dame führt und schnell mattsetzt.
3.Lc2 Kxh5
Wiederum erzwungen. Aber nun fängt der Tanz erst richtig an.
4.d8=D!!
Verblüffend! Weiß opfert seinen einzigen Stolz, den vorgerückten d-Bauern.
4. … Sf7+ 5. Ke6! Sxd8+ 6.Kf5!
Damit schließt sich das Mattnetz um den schwarzen König und es droht 7. Ld1 matt!
6 . … e2
Offensichtlich wieder der einzige Zug.
7. Le4!
Droht diesmal 8.Lf3 matt. Dagegen gibt es nur eine Verteidigung: Schwarz muss seinen e-Bauern in einen Springer verwandeln.
7. … e1S 8.Ld5!!
Ein ruhiger, aber wichtiger Zug. Der Springer e1 darf sich nicht vom Flecken rühren, derjenige auf d8 auch nicht wegen Lf7 matt; und außerdem droht Lc4 nebst Le2 matt
8. … c2 9. Lc4! c1S
Wiederum Pflicht. Nun besitzt Schwarz vier Springer, aber der weiße Läufer kontrolliert alle Felder.
10. Lb5
Diesmal droht das Unheil von der anderen Seite, vom Feld e8 aus.
10. … Sc7 (Sc6 sieht unsinnig aus, ist aber gleichwertig schlecht laut Computer)
11. La4!
Die Schlussstellung ist ein Diagramm wert:
Weiß: Kf5, La4, Bg3 Schwarz: Kh5, Sd8,Sc7,Sc1, Se1,Bc5,h6)
Es droht nun Matt durch Ld1, und dagegen ist die gesamte schwarze Kavallerie machtlos!
11.-, Se2 12. Ld1, Sf3 13. Lxe2 bedeutet nur einen kleinen Aufschub. Schwarz besitzt ein Extratempo, kann jedoch nicht davon profitieren, weil jeder der vier Springer auf einem falschen Feld steht.
Ein Reporter wurde nach Georgien geschickt, um ein Interview mit dem Entdecker dieser Glanzzüge zu führen. Als der Mann aus Moskau schließlich das Dorf erreichte, war zwei Tage zuvor der georgische Bauer verstorben.
Ich hätte viele Möglichkeiten gehabt, diese phantastische Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Antoli Karpow war Teilnehmer beim 15. Interpolis-Turnier, wo mir die Stellung gezeigt worden war, Michael Tal eingeladener Gast.
Die Turnierbücher von St. Petersburg 1909 und 1914 befinden sich in meinem Regal. Es wäre leicht, sie zu durchstöbern.
Ich werde davon absehen.